Jeder schreibt für sich allein
Deutschland 2023, 167 min • Darsteller
Anatol Regnier
Florian Illies
Gabriele von Arnim
Günter Rohrbach
Christoph Stölzl, • Crew
Regie: Dominik Graf & Felix von Boehm
Buch: Anatol Regnier, Dominik Graf, Constantin Lieb
Kamera: Florian Mag, Markus Schindler, Niclas Reed
Middleton, Pierre Nativel, Sven Jakob-Engelmann
Schnitt: Claudia Wolscht
Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem
Jeder schreibt für sich allein
Pressestimmen
Gottfried Benn, Erich Kästner und Co.: Dominik Grafs schillernder Filmessay über Dichter in der Nazi-Zeit
Es gab sie, die untrüglichen Zeichen des Unheils. Und dennoch entschieden sich viele deutsche Schriftsteller, nach 1933 nicht ins Exil zu gehen, sondern im Land zu bleiben, mal mehr, mal weniger im Pakt mit dem Bösen. Gottfried Benn, der vielleicht bekannteste unter ihnen, der 1933 Heinrich Mann vom Vorsitz der Sektion Dichtung der Akademie der Künste verdrängte. Erich Kästner, der nach eigenen Aussagen seine Bücher 1933 auf dem Opernplatz in Berlin brennen sah, auch er blieb. Bis heute ein Rätsel.
Ihnen, den in Deutschland gebliebenen Dichtern, den sogenannten inneren Emigranten, widmet sich der Regisseur Dominik Graf nun in einem fast dreistündigen Filmessay: Jeder schreibt für sich allein ist die Verfilmung des gleichnamigen 2020 erschienenen Sachbuchs von Anatol Regnier, der selbst in die Geschichte verstrickt ist: Seine Großmutter Tilly war die Frau von Frank Wedekind und hatte nach dem frühen Tod des Dramatikers eine langjährige Beziehung mit Gottfried Benn. Seine Mutter Pamela wiederum war mit Klaus Mann verlobt und ging mit ihm, Erika Mann und Gustaf Gründgens auf Theatertournee, bevor es zur Entfremdung zwischen den beiden kam und auch die Zeiten in Deutschland immer dunkler wurden.
Dominik Grafs Dokumentarfilm nach dem Buch von Anatol Regnier betrachtet und diskutiert die Wege deutscher Schriftsteller im Nationalsozialismus – fast drei Stunden lang, und keine Minute ist zu viel
Geschichte geschieht, und Menschen wurschteln sich durch. Facettenreich und differenziert diskutiert der Film die Komplexität menschlichen Denkens und Verhaltens. Interviewpartner sind beispielsweise die Schriftsteller Florian Illies und Gabriele von Arnim, die Kunstkritikerin Julia Voss, der Historiker Christoph Stölzl oder der Filmproduzent Günter Rohrbach. Archivmaterial und einzelne, äußerst zurückhaltend inszenierte szenische Elemente fügen sich im weit gespannten essayistischen Bogen schlüssig in den Fluss aus Geschichten und Schicksalen. Dominik Grafs eindringliche Erzählstimme trägt ebenfalls dazu bei, dass der Film seine Spannung über ganze 168 Minuten hält. So ist »Jeder schreibt für sich allein« mehr als ein Dokumentarfilm über einige Autoren in der Nazizeit geworden: Er ist eine faszinierende und immer wieder berührende filmische Form von Mentalitätsgeschichte und zugleich ein philosophisches Plädoyer für die Vorsicht bei moralischen Urteilen. Denn: Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?
Jeder schreibt für sich allein ist ein Film, der von Kompromissen und von Opportunismus, von moralischen Abgründen und Empathielosigkeit handelt, von Verhaltenslehren der Kälte und denen der Wärme, von Bücherverbrennungen und von Arrangements. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhältnissen, zum Totalitarismus der Gegenwart – und zwar dem in den westlichen Demokratien – und zum Terrorismus der jüngeren Vergangenheit, von Will Vesper zu Bernward Vesper, eben dem Mann von Gudrun Ensslin, von Gottfried Benn zu dessen begeistertem Leser, dem Fassbinder- und Untergang-Produzenten Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, der Kästners »Fabian« so wunderbar gegenwärtig verfilmte, zu unseren Eltern und Großeltern und unserer eigenen Zukunft.
Jeder schreibt für sich allein ist ein großer Film, weil er schön und zugleich extrem schmerzhaft ist. Allein schon deswegen verdient er es unbedingt, dass ihn jeder sieht.